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Einführung in die Europäische Ethnologie

Einführung in die Europäische Ethnologie. WS 2011/12 Prof. Dr. Johannes Moser. Einführung in die Europäische Ethnologie 2. Organisatorisches: Prüfungen (Klausur): BA-Studierende: 6.2.2012 14.15 s.t. EWS-Studierende: 6.2.2012 14.15 s.t.

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Einführung in die Europäische Ethnologie

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  1. Einführung in die Europäische Ethnologie WS 2011/12 Prof. Dr. Johannes Moser

  2. Einführung in die Europäische Ethnologie 2 • Organisatorisches: Prüfungen (Klausur): • BA-Studierende: 6.2.2012 14.15 s.t. • EWS-Studierende: 6.2.2012 14.15 s.t. • Magisterstudierende (Zwischenprüfung und Hauptseminaraufnahmeprüfung): voraussichtlich 13.2.2012, Zeit und Ort rechtzeitig auf der Institutshomepage (http://www.volkskunde.uni-muenchen. de/index.html) oder im Sekretariat erfragen. • Seminarkarte! • Erläuterungen zu Folien

  3. Einführung in die Europäische Ethnologie 3 • Volkskunde/Europäische Ethnologie ist eine Disziplin, die sich im weitesten Sinn mit der Alltagskultur bzw. mit kulturellen Phänomenen in Europäischen Gesellschaften in Geschichte und Gegenwart beschäftigt. • In ihrer Tradition als Volkskunde lange Zeit mehr auf die eigene nationale Gesellschaft fokussiert, hat sich der Blickwinkel in den letzten Jahrzehnten verstärkt auf kulturelle Phänomene in ganz Europa erweitert.

  4. Einführung in die Europäische Ethnologie 4 • Im Gegensatz zu manchen anderen Kulturwis-senschaften richtet die Volkskunde/Europäische Ethnologie ihr Augenmerk weniger auf die Hoch-kultur oder Lebenswelten der höheren Schich-ten, sondern auf das Denken, Handeln und Füh-len von Gruppen aus der breiten Bevölkerung. • Vor allem die symbolischen Ordnungen des All-tagslebens in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem Wandel stehen im Zentrum des Interes-ses, wobei die Beziehungen von Kultur, Macht und Ungleichheit eine zentrale Rolle spielen.

  5. Einführung in die Europäische Ethnologie 5 • Forschungsbeispiel Blatten – ein Dorf an der slowenisch-steirischen Grenze Kultur • Mit Kultur versuchen wir zu erklären, erstens wie Menschen Bedeutungen schaffen und ihrerseits wieder von diesen Bedeutungen beeinflusst wer-den und zweitens wie sie diese Bedeutungen in ihrem täglichen Lebensvollzug – also in der Pra-xis – bestätigen oder transformieren. Es handelt sich also um ein Orientierungs- und Handlungs-system, dass nicht in Modi von Einheit und Ab-geschlossenheit gedacht werden kann.

  6. Einführung in die Europäische Ethnologie 6 • Generell spielen in diesem Beispiel wir für unser Fach insgesamt die Kategorien Zeit, Raum und Soziales eine wichtige Rolle. Distinktionen, soziale Unterschiede • Wir leben in einer stratifizierten Gesellschaft, wo – je nach Zugang – zwischen Klassen, Schichten und/oder Milieus unterschieden wird. Bei den damit einhergehenden Zuschreibungen und den Abgrenzungsversuchen (Distinktionen) handelt es sich um zutiefst kulturelle Phänomene, die in verschiedenen Forschungen in der Volkskunde/ Europäischen Ethnologie eine Rolle spielen.

  7. Einführung in die Europäische Ethnologie 7 Identität • Wie den meisten oder allen kultur- und sozialwis-senschaftlichen Begriffen wohnt auch dem der Identität eine gewisse Unschärfe inne, trotzdem gibt es zumindest ein konstitutives Merkmal, das eine inhaltliche Bestimmung ermöglicht. Dabei handelt es sich um die soziale Dimension von Identität, die Anselm Strauss in folgendem Satz so wunderbar gefasst hat: Identität ist immer ver-bunden mit der schicksalhaften Einschätzung seiner selbst – durch sich selbst und durch ande-re.“

  8. Einführung in die Europäische Ethnologie 8 Ethnizität • Ethnizität bezeichnet ein kollektives Identitäts-konzept, das mit der Fachgeschichte beider Eth-nologien – also der Volks- wie der Völkerkunde –verbunden ist. Die Vorstellung von ethnischer Identität setzt ein Bewusstsein kultureller Zuge-hörigkeit voraus, „das sich“, so Wolfgang Ka-schuba, „aus der Wahrnehmung der ‚Andersar-tigkeit’ aller anderen speist“. So konkret die sozi-alen Praktiken sind, die sich mit ethnischer Iden-tität verbinden, so gefährlich sind jene Ideologien und Vorstellungswelten, die damit verknüpft sind.

  9. Einführung in die Europäische Ethnologie 9 Community Studies • Bei den Community Studies handelt es sich um ein tradi-tionsreiches Vorgehen in den ethnologischen Disziplinen. Am Beispiel von Gemeinden können im Rahmen von Mi-krostudien verschiedene kulturelle Phänomene unter-sucht werden, manchmal auch ganze Gemeinden an sich. In so einem begrenzten Ausschnitt lassen sich hi-storische Erfahrungen und soziale Ordnungen, kulturelle Verkehrsformen und soziale Gruppierungen sehr genau beobachten und analysieren. In einer Gemeinde spiegelt sich nicht eine ganze Nation im kleinen wider und es handelt sich um keine abgeschlossene Entität, die keinen oder wenigen externen Einflüssen ausgesetzt ist.

  10. Einführung in die Europäische Ethnologie 10 Kontinuität und Wandel • Diese Begriffe verweisen auf ein zentrales Fak-tum von Kultur und Gesellschaften, dass sie nämlich einem Wechselspiel von dauerhaften und veränderlichen Elementen unterliegen. Sie treten bei jedem Phänomen eher gleichzeitig auf, freilich in sehr unterschiedlicher Gewichtung. Sie sind auch nur als relationales Begriffspaar zu verwenden, weil es dabei immer nur um ein Langsamer oder Schneller im Vergleich gehen kann; absoluter Stillstand oder permanente Bewegung findet sich selten. (vgl. W. Kaschuba)

  11. Einführung in die Europäische Ethnologie 11 Grenze • Die Grenze ist, obwohl man zunächst an ein räumliches Phänomen denkt, ein zutiefst kulturelles Phänomen. Es geht bei Grenzen stets um mehr als feste Markierungen oder Trennlinien. Grenzen können Quelle von Ängsten und Konflikten sein, aber ebenso von Möglichkeiten. Weil sie nie strikte Trennlinien von irgendetwas sind, stellen sie im räumlichen wie im sozialen Sinn Grenzzonen dar, in denen sich spezifische Dynamiken entwickeln. An Grenzen sind Gesellschaften wie Gruppen besonders verwundbar, an ihnen werden Identitäten ent- oder verworfen, an ihnen verschieben und verändern sich kulturelle Kategorien und Bedeutungen.

  12. Einführung in die Europäische Ethnologie 12 Methoden (Beispiele) Beispiel Film „Kitchen Stories“ • Feldforschung • Teilnehmende Beobachtung • Interviews • Expertengespräche • Historisch-archivalische Methoden • Medienanalyse • Kartierungen • Film und Fotografie • Verschiedene Analyseverfahren

  13. Einführung in die Europäische Ethnologie 13 Geschichte der Volkskunde • Für die Anfänge der Volkskunde gilt es – darauf hat Andreas Hartmann hingewiesen – auf jene historischen Diskussionsfelder zu schauen, die so etwas wie eine volkskundliche Fragestellung hervorgebracht haben. • Der Begriff Volkskunde taucht Ende des 18. Jahrhunderts (frühe Belege von 1782 und 1788) auf, wird aber noch nicht im Sinne einer Disziplin verwendet. • Eine wichtige Rolle spielte die Aufklärung, die im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht.

  14. Einführung in die Europäische Ethnologie 14 • Besonders die Statistik interessiert sich seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts für Land und Leu-te, um dem Staat nützliches Wissen zur Verfü-gung zu stellen. Wichtige Vertreter sind hier etwa Gottfried Achenwall (1719-1772) und sein Schü-ler August Ludwig von Schlözer (1735-1809). • Vorläufer sind auch in der Geographie und Ge-schichte zu finden, etwa bei Johann Christoph Gatterer (1727-1799), der historische, geogra-phische und kulturanthropologische Zugänge miteinander verband und sich unter anderem für eine „Geographie der Kultur“ interessierte.

  15. Einführung in die Europäische Ethnologie 15 • Das Raster, mit dem Land und Leute zur damali-gen Zeit betrachtet wurden, war historisch, kul-turell, sozial und ökonomisch bedingt. • Als einflussreich dürfen auch jene Forschungs-anliegen und Forschungsreisen gelten, welche Menschen und Gesellschaften außerhalb Euro-pas ins Zentrum des Interesses rückten und sich bei deren Untersuchung bereits einer umfangrei-chen Methodologie bedienten. • In Europa gewann um die Wende vom 18. um 19. Jahrhundert die Betrachtung der Unterschie-de in den Nationalcharakteren Bedeutung.

  16. Einführung in die Europäische Ethnologie 16 • Von großer Bedeutung war Johann Gottfried Herder (1744-1803) mit seinen „Ideen zur Philo-sophie der Geschichte der Menschheit“. • Auch Herder interessiert sich für Volkscharak-tere, deren Unterschiede er an materielle Bedin-gungen und Lebensweisen rückbindet. So schuf er einen Entwurf – schreibt W. Kaschuba –, „der die ‚Kulturen der Völker‘ systematisch und klas-sifizierend zu erfassen sucht“, wobei er kritisch reflektiert, wie dies geschehen könne. • Herder sah „im Volk eine überindividuelle Per-sönlichkeit mit schöpferischer Begabung“.

  17. Einführung in die Europäische Ethnologie 17 Johann Gottfried Herder (1744-1803)

  18. Einführung in die Europäische Ethnologie 18 • Er interessierte sich besonders für jene „unsicht-baren Kräfte“ (Herder), die eine „Volksseele“ be-stimmen und die er in der Volksdichtung und Lie-dern zu finden glaubt. • Im 19. Jh. bestimmten die genannten Strömun-gen der Aufklärung und der Romantik die Ent-wicklung der wissenschaftlichen Volkskunde. • Die Aufklärung setzte u.a. auf das Vernunftden-ken und betonte die Gleichheit der Menschen. • Die Romantik wiederum „richtete den Blick auf eine scheinbar ‚heile‘ Vergangenheit und schwor allem Nützlichkeitsdenken ab“ (Kai D. Sievers).

  19. Einführung in die Europäische Ethnologie 19 • Beide Richtungen interessierten sich allerdings für das Volk. • Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bringt eine Vielzahl von kameralistischen Beschreibungen über Land und Leute, über Lebensverhältnisse und Lebensweisen der Menschen. Oftmals ging dabei die kameralistische Beschreibung auch in eine nationalromantische Richtung über – etwa in der Begeisterung für Volkslieder, die als Aus-druck „ursprünglicher volkstümlicher Unverdor-benheit“ galten.

  20. Einführung in die Europäische Ethnologie 20 • Ein für das Fach bedeutsamer Vertreter im 19. Jahrhundert war Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897). • Riehl war eigentlich Theologe, seit 1854 in Mün-chen aber Professor für Staatswirtschaftslehre und Statistik und seit 1859 für Kulturgeschichte. • Zunächst verstand er die Volkskunde als eine Art Hilfswissenschaft für eine Staatswissenschaft. Mit dieser Form einer „Naturgeschichte des Vol-kes“ sollten Verwaltungs- und Verfassungsbe-amte in Landes- und Volkskunde ausgebildet werden.

  21. Einführung in die Europäische Ethnologie 21 • 1858 hielt er in München einen programmati-schen Vortrag mit dem Titel „Die Volkskunde als Wissenschaft“, wegen dem er häufig als Gründer einer wissenschaftlichen Volkskunde bezeichnet wird, obwohl der Vortrag kaum rezipiert wurde. • Auch wenn eine echte wissenschaftliche Ausein-andersetzung mit dem Gegenstand fehlte, so hat er Wesen und Aufgabe der Volkskunde zu be-nennen gesucht. • Er plädierte dafür, nicht bloß Material zu sam-meln, wie eine der berühmtesten und immer wie-der zitierten Passagen belegt:

  22. Einführung in die Europäische Ethnologie 22 • „Diese Studien über oft höchst kindische und wi-dersinnige Sitten und Bräuche, über Haus und Hof, Rock und Kamisol und Küche und Keller sind in der That für sich allein eitler Plunder, sie erhalten erst ihre wissenschaftliche wie ihre poe-tische Weihe durch ihre Beziehung auf den wun-derbaren Organismus einer ganzen Volksper-sönlichkeit, und von diesem Begriff der Nation gilt dann allerdings im vollsten Umfang der Satz, daß unter allen Dingen dieser Welt der Mensch des Menschen würdigstes Studium sey.“

  23. Einführung in die Europäische Ethnologie 23 • Das Material müsse nach Riehl bestimmten Ka-tegorien zugeordnet werden, nämlich den vier großen „S“: Stamm, Sitte, Sprache, Siedlung. • Außerdem forderte er eine teilnehmende Beob-achtung durch den Forscher, die sich bis dahin hauptsächlich als „Schreibtischwissenschaftler“ bei „abgeleiteten Quellen“ bedient hatten – also aus Büchern, Statistiken, Archivmaterial etc. • Riehls Forschung hatte die Idee der Nation im Fokus, die er als einen „naturhaften Zustand“ sah, „dessen Gesetzmäßigkeit“ er ergründen wollte.

  24. Einführung in die Europäische Ethnologie 24 • Riehl war nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Sozialpolitiker, weshalb er seine vier Werke Die bürgerliche Gesellschaft, Land und Leute, Die Familie und das Wanderbuch in einer Aus-gabe „Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik“ (1869) nannte. • Ins Zentrum rückte er dabei die Familie, die für ihn die wichtigste Rolle im nationalen und sozia-len Leben spielte. Sie ist für ihn eine konstante und unantastbare Größe, wozu die Vorstellung „von gottgewollter Unverrückbarkeit der Ge-schlechterrollen“ (Sievers) gehört.

  25. Einführung in die Europäische Ethnologie 25 • Riehl erkannte die Veränderungen, die im 19. Jh. abliefen, aber war gegen diese Veränderungen. • In seinem Gesellschaftsbild unterteilte er „Mäch-te des Beharrens“ (Bauern und Adel) und „Mäch-te der Bewegung“ (Bürgertum und Vierter Stand – also in etwa Lohnarbeiter). • Dabei wurde das Bauerntum als beharrendes Element von ihm besonders geschätzt. So hatte sein Gesellschaftsbild auch keine Zukunftspers-pektive, sondern richte den Blick auf eine Ver-gangenheit, die es in der von ihm propagierten Form auch nie gegeben hatte.

  26. Einführung in die Europäische Ethnologie 26 • Von bleibt Riehl ein widersprüchlicher Eindruck: • Erstens seine staatswissenschaftliche Perspek-tive, die der Volkskunde einen Platz als Lie-ferantin von Informationen über Land und Leute einräumte. • Dann aber eine rückwärtsgewandte, romantische und ideologiebehaftete Gesellschaftslehre, die den Wirklichkeiten seiner Zeit nicht entsprach. • Schließlich war er auch für die Verhältnisse sei-ner Epoche kein exakter Wissenschaftler. Weder sammelte er sein Material sorgfältig, noch ent-wickelte er ernstzunehmende Theorieansätze.

  27. Einführung in die Europäische Ethnologie 27 Wilhelm Heinrich Riehl

  28. Einführung in die Europäische Ethnologie 28 • Trotz dieser Schwächen gelangte er zu wichti-gen Erkenntnissen und die wissenschaftliche Volkskunde verdankt ihm eine Fülle von Anre-gungen. • In der Folge von Herder entwickelt sich im 19. Jahrhundert ein starkes romantisches Interesse, das sich für die Äußerungen des „Volksgeistes“ in Lied, Märchen, Sage, Glaube und Brauch begeisterte. Die Geschichte des eigenen Volkes wurde bedeutsam und Zeugnisse tradierter Volkskultur wurden gesammelt.

  29. Einführung in die Europäische Ethnologie 29 • Das Vergangene wurde als das Vollkommene gesehen und auch als Nahrung für die Zukunft, wie es Jacob Grimm formuliert hat. • Jacob (1785-1863) und Wilhelm (1786-1859) Grimm wurden zwei bedeutende Vertreter dieser Richtung, die auch die Altertumskunde grün-deten. • 1812 und 1815 veröffentlichten sie die beiden Bände der „Kinder- und Hausmärchen“, danach folgten die „Deutschen Sagen“ (1816-18).

  30. Einführung in die Europäische Ethnologie 30 • Die Brüder Grimm sahen in der Volkspoesie „ei-ne autonome Schöpfung“, „deren Ursprung in ei-ne unbestimmte ältere Zeit reiche, über der der ‚Schleier des Geheimnisses gedeckt‘ liege, ‚an den man glauben soll‘.“ (Sievers). • Schon vor den Brüdern Grimm hatten Ludwig Achim von Arnim (1781-1831) und Clemens Brentano (1778-1842) die erste umfassende Volksliedsammlung „Des Knaben Wunderhorn“ (1806-1808) veröffentlicht, der eine Vielzahl weiterer Sammlungen folgte.

  31. Einführung in die Europäische Ethnologie 31 • Kritisiert wurde allerdings – etwa von den Brü-dern Grimm –, dass Arnim und Brentano zu „echten Volksliedern“ im „Volksliedton“ umge-dichtet haben. • Die Begriffe „Volksgeist“ und „Volkspoesie“ spiel-ten in der Romantik also eine wichtige Rolle, wo-zu noch der Begriff des „Volkstums“ kam, der von Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852), dem Gründer der deutschen Turnbewegung, stammt. • Jahn wollte in seinem Buch „Deutsches Volksthum“ (1810) die Gemeinsamkeit der deutschen Kulturüberlieferungen belegen.

  32. Einführung in die Europäische Ethnologie 32 • Diese sollten für die Erziehung zur nationalen Einheit politisch nutzbar gemacht werden. • Die Romantik war für die Entwicklung der Volks-kunde als Wissenschaft von zentraler Bedeu-tung. Neben einer historischen Perspektive, die hinter der Untersuchung „geistiger“ Überlieferun-gen steckte, verfolgte man aber auch mythische Vorstellungen von germanischem Altertum, die historisch nicht belegbar waren und für das Fach bis nach 1945 eine schwere Hypothek dar-stellten.

  33. Einführung in die Europäische Ethnologie 33 • Ein bedeutender Vertreter des Faches im 19. Jh. war der Mythologe Wilhelm Mannhardt (1831-1880), der die Mythologie als eine exakte Wis-senschaft zu begründen suchte. Sein bekanntes-tes Werk war „Wald- und Feldkulte“, das auf ei-ner breiten Fragebogenaktion aufbaute.  • Auch die Völkerpsychologen interessierten sich für überlieferte Glaubensvorstellungen, um in Sprache, Mythologie, Religion, Sitte und Recht den „Elementen und Gesetzen des geistigen Völkerlebens“ auf die Spur zu kommen.

  34. Einführung in die Europäische Ethnologie 34 • Dafür musste ein wissenschaftliches Bezugssys-tem geschaffen werden, „innerhalb dessen die Geisteseigenschaften der Völker zu bestimmen seien, ihr Ethnos“ (Weber-Kellermann/Bimmer). • Daran anschließend suchte der Arzt und Ethno-psychologe Adolf Bastian (1826-1905) nach den „Elementargedanken der Menschheit“, „die un-geachtet räumlicher Entfernung, sozialen Kon-textes sowie wirtschaftlicher, politischer und hi-storischer Bedingtheiten in gleicher Weise in den unterschiedlichsten menschlichen Kulturen vorhanden seien“ (Sievers).

  35. Einführung in die Europäische Ethnologie 35 • Diese würden sich – in evolutionärem Sinn – in einer Stufenfolge weiterentwickeln. • Seit den 1830er Jahren entwickelten sich die Geschichts- und Altertumsvereine, die auch ein Forum für die Volkskunde darstellten und die 1852 die Dachorganisation „Gesamtverein der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine“ bildeten. 1852 wurde zudem das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg gegründet, in dem die Kulturgeschichte des deutschen Volkes gesammelt werden sollte.

  36. Einführung in die Europäische Ethnologie 36 • Damit sollten auch Zeugnisse der Volkskultur in einer sich rapide verändernden Welt vor dem Untergang gerettet werden. • Eine eigenständige Wissenschaft wurde die Volkskunde allerdings erst gegen das Ende des 19. Jahrhunderts. Der Germanist Karl Weinhold (1832-1901) gründete 1890 den „Berliner Verein für Volkskunde“, dem bald weitere Vereinsgrün-dungen folgten, in deren Rahmen auch volks-kundliche Zeitschriften herausgegeben wurden.

  37. Einführung in die Europäische Ethnologie 37 • 1891 wurde die Zeitschrift des Vereins für Volks-kunde zum zentralen Publikationsorgan und exi-stiert noch heute als „Zeitschrift für Volkskunde“. • Kai Detlev Sievers konstatierte, dass Weinhold ein anspruchsvolles Programm entwickelt hat. „Neben dem äußeren physischen Erscheinungs-bild sollten auch dessen Lebensverhältnisse – Nahrung, Kleidung, Wohnung – und die Ver-mittlung normativer Werte in Religion, Recht, Sprache, Poesie, Musik, Tanz und Ästhetik untersucht werden.“

  38. Einführung in die Europäische Ethnologie 38 • Auch die historische Schule der Volkswirtschaft spielte für die Volkskunde eine wichtige Rolle, weil sich ihre Vertreter neben ökonomischen Ge-setzmäßigkeiten auch für Faktoren wie Sitte, Gewohnheit, Rechtstraditionen etc. interessierte. • Ein bedeutender Vertreter war Gustav Schmoller (1838-1917), der den Zusammenhang von Raum, Zeit und Nationalität thematisierte und ei-nen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der Handwerksgeschichte lieferte.

  39. Einführung in die Europäische Ethnologie 39 • Andere Vertreter – wie Karl Bücher (1847-1930) – rückten das Thema Arbeit in den Mittelpunkt, schauten auf Formen der Arbeitsteilung oder auf den Zusammenhang von Arbeit und Arbeitstakt. • Man beschäftigte sich mit der sozialen Frage und mit der Situation der ländlichen Bevölkerung sowie mit der Lage der Industriearbeiterschaft.  • Ein bedeutender Sozialpolitiker war der Arzt Ru-dolf Virchow (1821-1902), der eine umfassende Sozialhygiene anstrebte. Daneben interessierte er sich für das Volksleben und war an Vereins- und Museumsgründungen beteiligt.

  40. Einführung in die Europäische Ethnologie 40 • Ohne es hier ausführen zu können, spielten auch der Historische Materialismus von Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) sowie die kulturhistorische Methode des Historikers Karl Lamprecht eine wichtige Rolle. • Für die Volkskunde wurde aber das Buch „Ge-meinschaft und Gesellschaft“ des Soziologen Ferdinand Tönnies (1855-1936) bedeutsam, mit dem er den Übergang von gemeinschaftlichen zu gesellschaftlichen Formen des Zusammenle-bens beschreiben wollte (dazu an anderer Stelle dieser Vorlesung mehr).

  41. Einführung in die Europäische Ethnologie 41 • In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts können – mit Utz Jeggle – drei grobe Richtungen unterschieden werden. • Da ist der nationalistische Zugang, der aller-dings zu Beginn des Jh. noch gar nicht so stark ausgeprägt war. Karl Weinhold hatte zunächst überhaupt eine „Unbefangenheit in allen natio-nalen Fragen“ geäußert. Zwar beförderte der erste Weltkrieg das nationalistische Denken, aber nicht so sehr in der wissenschaftlichen Volkskunde. Der Feind wurde hier eher in der Sozialdemokratie gesehen.

  42. Einführung in die Europäische Ethnologie 42 • Gerade die Industrialisierung stellte ein Problem für das junge Fach Volkskunde dar. Die Auswir-kungen der Industrialisierung auf die Kultur und das Alltagsleben wurden nicht direkt in den Blick genommen. Allenfalls sah man „die Gefahr der Zerstörung des volkskulturellen Kerns“, der nicht in der Industriebevölkerung vermutet wurde. 2. Eine andere Denkachse stellt psychologische und historische Zugänge einander gegenüber. • Etwa wurde nicht wirklich historisch gedacht, sondern eher nach einem historischen Ursprung als nach einer Entwicklung gesucht.

  43. Einführung in die Europäische Ethnologie 43 • Auf dem seelischen Terrain wiederum herrschte eine Vorstellung von Ganzheit, die eine Volks-seele suchte, die „als kollektive Gesamtheit ge-dacht wird“, die von der Volkskunde „zu rekon-struieren und zu rekonstituieren“ sei (Jeggle). • Von Albrecht Dieterich (1866-1908) wurde dies „Mutterboden der Kulturnation“ genannt. • Konterkariert wurden diese Annahmen durch Stu dien, die das materielle Volksleben anhand von Sachzeugnissen und der Berufsarbeit von Bau-ern und Handwerkern erhoben (Rudolf Meringer 1859-1931 und Richard Wossidlo 1859-1939).

  44. Einführung in die Europäische Ethnologie 44 • Die Volksseele selbst wurde eher metaphorisch umkreist, denn definitorisch abgegrenzt. Bei Eduard Hoffmann-Krayer (1864-1936) ist sie ei-ne Art „ruhender Pol“, in dem die Anschauungen des Volkes zum Ausdruck gelangen. Er nennt dies „vulgus in populo“ und sah dies im „niede-ren, primitiv denkenden, von wenig Individuali-täten durchdrungene Volk“. • Hoffmann-Krayer erkannte durchaus die Einflüs-se einer Moderne, die die Individualisierung der Menschen vorantreibt, die Volkskunde allerdings solle das „Generellstagnierende“ erforschen.

  45. Einführung in die Europäische Ethnologie 45 • Adolf Spamer (1883-1953) erkannte dann die ideologischen Verkürzungen, die mit dem Begriff Volksseele einhergingen. Er sieht den Kern der Volksseele nicht etwa in der bäuerlichen Kultur, sondern in der Triebgebundenheit des Men-schen, dessen Motoren Hunger und Liebe seien. 3. Ein drittes Diskursfeld behandelte die Fragen der Individualität und des Schöpferischen. • 1922 veröffentlichte Hans Naumann (1886-1951) sein schmales Buch „Grundzüge der deutschen Volkskunde, worin er seine These vom gesunke-nen Kulturgut präsentierte.

  46. Einführung in die Europäische Ethnologie 46 • Seine viel kritisierte These lautete: „Volkskultur wird von der Oberschicht gemacht“. • Zwar schrieb er sehr wohl, dass auch die Eliten-kultur an den „Wurzelstock der primitiven Ge-meinschaft“ rückgebunden sei, aber das minder-te die Kritik keineswegs, obwohl auch schon Hoffmann-Krayer Gleiches formuliert hatte: „Das Volk produziert nicht, es reproduziert“. • Differenziert und psychoanalytisch fundiert, stell-te Adolf Spamer fest, dass es auch in den Eliten „Bewußtseinsebenen gibt“, die „archaischen Re-likten verpflichtet sind“

  47. Einführung in die Europäische Ethnologie 47 Volkskunde im Nationalsozialismus • Die Volkskunde spielte im Nationalsozialismus – wie viele Wissenschaften – eine unrühmliche Rolle. Einige Vertreter trugen zum abstrusen Ge-dankengebäude der Nationalsozialisten bei, viele waren mehr oder weniger engagierte Mitläufer, die vom Machtsystem zu profitieren versuchten. • Die Volksideologie der NS-Zeit entstand aber nicht aus sich selbst, sondern hatte Vorläufer, die benannt werden können, auch wenn nicht alles, was vorgedacht worden ist, ist für die Katastrophe der NS-Zeit verantwortlich.

  48. Einführung in die Europäische Ethnologie 48 • Der bedeutendste Volkskundler des 20. Jahrhun-derts Hermann Bausinger hat einige Elemente der Volksideologie zusammengefasst: den na-tionalen Aspekt; die rassistischen Ideen; die Gleichsetzung von nordisch und germanisch; die Überhöhung des Bauernstandes, den Hitler als das „Fundament der gesamten Nation“ bezeich-nete; die „organische Konstruktion einer ge-schlossenen Volkspersönlichkeit“; der quasi-reli-giöse Charakter volkstümlicher Überlieferung und damit der Vorrang der Volkstumspraxis, die nur auf politischen Nutzen abzielte.

  49. Einführung in die Europäische Ethnologie 49 • Utz Jeggle hat zu Recht moniert, dass daraus „Ideenbreie“ entstanden sind, die sich durch folgende Aspekte auszeichneten: • Verzicht auf wissenschaftliche Methodik, • Quellenkritik, • Transparenz des Forschungsprozesses • ‚Zerstörung der Vernunft‘ • Ausblenden des Intellekts • Abbau wissenschaftlicher Erkenntnissicherung • Ablehnung des kritischen Diskurses • Translozierung wissenschaftlicher Vorstellungen in ein Bekenntnissystem, das nicht einmal mehr den An-strich der Wissenschaftlichkeit braucht“

  50. Einführung in die Europäische Ethnologie 50 • Deutlich wird dies in einem Zitat von Wilhelm Peßler aus einem Grundsatzartikel zum Fach: • „Möge es solcher Gestalt der Volkskunde ge-lingen, allen Volksgenossen das Wesen der Deutschheit zu erschließen und das Herz zu öff-nen für ihre Brüder, daß sie, einig im Kampf um Deutschlands Auferstehen, mit uns sprechen: ‚Ich bekenne mich zur deutschen Volksgemein-schaft und ich glaube an Deutschlands Unsterb-lichkeit‘.“ • Vertreter wie Otto Höfler oder Eugen Fehrle hatten in eine ähnliche Richtung artikuliert.

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